Auf den Schultern von Riesen
Bauen Sie auf Erkenntnissen anderer auf und kommen Sie groß raus
Professoren können auf ihre Studierende manchmal entmutigend wirken. Als Studienanfängerin war ich schwer beeindruckt von der Fülle und Tiefe der Kenntnisse und Theorien, die meine Literaturprofessoren während ihrer Vorlesungen ad hoc zitieren konnten. Woher wussten sie das nur alles? Und würde ich jemals auch so viel wissen und so kompetent sein? Das schien mir damals sehr unwahrscheinlich.
Sie fühlen sich auch so? Damit sind wir tatsächlich nicht allein. Viele der brillantesten Geister ihres Fachs haben auch einen Fall des Imposter-Syndroms (dt. Hochstapler-Syndrom) erlitten. Genau wie Sie haben sie am Anfang ihrer Karriere zu den Riesen ihres Fachs hinaufgesehen. Obwohl sie sich minderwertig fühlten, haben sie durchgehalten und schließlich ihren eigenen Platz in in ihrem Fachbereich gefunden. Und das, indem sie auf den Arbeiten ihrer Mentoren aufgebaut haben.
Die Arbeiten und Erkenntnisse anderer zu nutzen, um einen eigenen Beitrag zum Wissen zu leisten, steckt hinter dem Konzept des „auf den Schultern von Riesen stehen“. Diese berühmte Formulierung stammt aus einem Brief von Isaac Newton an einen seiner Kollegen aus dem Jahre 1675, dem er über seine Entdeckung zur Farbtheorie auf Englisch schrieb: “If I have seen further, it is by standing on the shoulders of Giants*”( dt.:"Wenn ich weiter sehen konnte, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stand.").
Das ist eine bescheidene Anerkennung der wichtigen Entdecker, die vor ihm kamen. Auf der Grundlage ihrer Erkenntnisse gelang ihm ein wissenschaftlicher Durchbruch, auch wenn er sich selbst als bloßen Zwerg ansah.
Das Bild von Zwergen, die auf den Schultern von Riesen stehen, geht mindestens auf das zwölfte Jahrhundert zurück (Merton 1993). Warum bringen wir die Aussage dann meistens mit Newton in Verbindung? Ein Grund könnte sein, dass es im darauffolgenden Jahrhundert den Zeitgeist widerspiegeln würde.
In den hundert Jahren nachdem Newton diese Worte zu Papier gebracht hat, etablierte sich ein System, das das wissenschaftliche Schreiben bis heute formen sollte: das Fußnotensystem. Im Jahrhundert zuvor nutzten Autoren Randnotizen und Glossare für zusätzliche Kommentare (Conners 1998). Einen Verweis über den Autorennamen hinaus benötigte man selten, aufgrund der Annahme, dass die Leser dieselben klassischen oder religiösen Texte gut kannten. Außerdem machte das Zitieren einer Seitenzahl vor der Erfindung der Druckerpresse schlicht keinen Sinn; als Bücher von Hand vervielfältigt wurden, hatte jedes Buch eine individuelle Seitennummerierung.
Die Erfindung der Druckerpresse fixierte erst die Seitenzahlen (Conners 1998, p. 8). Das bedeutete, dass Autoren genau angeben konnten, wo sie eine Idee oder ein Zitat gefunden hatten. Auch die Anzahl der verfügbaren Bücher stieg schnell an. Hinzu kam ein kultureller Wandel in Europa und Großbritannien, durch den immer mehr erwartet wurde, dass Autoren ihre Quellen zitierten. Mit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurden Fußnoten bevorzugt, vermutlich da sie weniger Platz benötigten und weniger ablenkten als Randnotizen (Connors 1998). Zitate in den Fußnoten ermöglichten Autoren, die Arbeit der Riesen vor ihnen anzuerkennen, und sie halfen den Lesern, die Quelle selbst zu finden und zu lesen – sprich aus den gleichen Gründen, aus denen wir heute unsere Quellen anführen.
Der alltägliche und manchmal langweilige Prozess des Zitierens basiert auf einem sehr erhabenen Gedanken. Wir würdigen die Riesen, die vor uns kamen, und wir treiben ihre Erkenntnisse voran, wenn auch nur in kleinen Schritten.
Aber gilt die Metapher heute noch? Während der Aufklärung war die Zahl der klassischen Autoren oder Zeitgenossen, die man zitieren konnte, geringer. Viele der Denker und Entdecker arbeiteten in Bereichen, die heute viele verschiedene wissenschaftliche Disziplinen wären. Weil sie die ersten waren, die wichtige Entdeckungen machten, konnten sie wahrlich als Riesen angesehen werden.
Im 21. Jahrhundert gibt es mehr Menschen, die in einer bestimmten akademischen Disziplin tätig sind. Während Ihnen die großen Namen Ihres Fachs geläufig sind, kennen Sie meist nicht alle Autoren, die Sie in Ihrem Aufsatz oder Ihrer Thesis zitieren. Anstelle weniger großer Namen, die jedes Feld dominieren, wird das Wissen Schritt für Schritt fortgeschrieben durch die Mühen vieler einzelner Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen.
Diesen Punkt vertritt der PhD-Student und Blogger Tom Donoghue in seinem Beitrag mit dem Titel “I don’t stand on the shoulders of giants”.
Er behauptet, dass eine neue Metapher notwendig sei. Anstelle nur auf den Schultern einiger weniger Einzelpersonen zu stehen, schlägt er das Bild des Crowd-Surfens vor. Er schreibt: “If ever there was truly a time in which individuals independently pushed science forwards, it is not today. Modern science is a team sport, and the words we use should reflect that, and give credit to the immense number of people contributing to its developments.” Damit bezeichnet er die moderne Wissenschaft als eine Teamleistung. Wenn wir heutzutage also meist eine Autorengruppe zitieren, wie behalten wir den Überblick über diese vielen Personen? Sich daran zu erinnern, welche Idee von welchem Autor stammt, ist schlicht nicht mehr möglich. Ganz zu schweigen von weiteren Details über das Werk oder der Seitenzahl. Literaturverwaltungsprogramme unterstützen Sie dabei, indem Sie mit ihnen Quellen verwalten, Notizen erstellen und Inhalte leicht wiederfinden können.
Auch wenn wir nicht mehr (nur) auf den Schultern von Riesen stehen, hat sich eines nicht verändert: Wir stehen auf den Schultern derjenigen Forscher, die uns vorangegangen sind oder die unsere Kollegen sind. Und um ihnen die Ehre zu erweisen, die sie verdienen, zitieren wir sie und ihre Arbeit. Dafür verwenden wir heute neben Fußnoten auch andere Zitierformen.
Die Verwendung der Erkenntnisse anderer ist ein wesentliches Element der Wissensproduktion. Wenn Sie sich also das nächste Mal von den Gelehrten, zu denen Sie aufblicken, entmutigt fühlen, trösten Sie sich mit der Tatsache, dass Sie eines Tages, wie Isaac Newton, vielleicht auch auf deren Errungenschaften aufbauen können, um Ihren eigenen Beitrag zum Wissen zu leisten.
Was halten Sie von der Metapher “auf den Schultern von Riesen stehen”? Finden Sie auch, dass das Bild des “Crowd-Surfens” heute besser passt? Wir freuen uns über Ihre Meinung auf Facebook!
* Rechtschreibung und Wortwahl modernisiert
Zur Vertiefung
Blyth, C. (2018). Hard to believe, but we belong here: Scholars reflect on impostor syndrome. Times Higher Education (THE). Online verfügbar unter https://www.timeshighereducation.com/features/hard-to-believe-but-we-belong-here-scholars-reflect-on-impostor-syndrome
Connors, R. J. (1998). The rhetoric of citation systems, Part I: The development of annotation structures from the renaissance to 1900. Rhetoric Review, 17(1), 6–48. https://doi.org/10.1080/07350199809359230
Connors, R. J. (1999). The rhetoric of citation systems, Part II: Competing epistemic values in citation. Rhetoric Review, 17(2), 219–245. https://doi.org/10.1080/07350199909359242
Donghue, T. (2017, May 24). I Don't Stand on the Shoulders of Giants. Blog-Beitrag. Online verfügbar unter https://tomdonoghue.github.io/sc/2017/05/24/IDontStandOnTheShouldersOfGiants.html
Merton, R. K. (1993). On the shoulders of giants: A Shandean postscript. Chicago: University of Chicago Press.
Newton, I. (1675). Isaac Newton letter to Robert Hooke, 1675, Historical Society of Pennsylvania Simon Gratz autograph collection (#0250A), Box 12/11, Folder 37.